Der Russeneinfall 1914 in Mallwischken

aus GenWiki, dem genealogischen Lexikon zum Mitmachen.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

von Siegfried Hecht und Lina Milkereit, geb. Teubler [1]

„Seit dem ersten Mobilmachungstage lebten wir stündlich in großer Aufregung, denn jeden Abend waren große Feuer an der russischen Grenze zu sehen. Am 16.08. kamen Flüchtlinge von Schirwindt und erzählten die schauerlichsten Geschichten, wie grausam die Russen mit Zivilpersonen umgingen und dass der Feind schon an der Grenze durchgebrochen wäre. Am 17.08. kamen Tausende von Flüchtlingen und rieten uns, auch die Sachen zu packen. Die notwendigsten Kleidungsstücke und Betten packten wir zusammen. Am Morgen des 18. war ein Offizier im Dorfe. Auf unsere Fragen gab er uns beruhigende Antworten. Doch nichts beruhigte die aufgeregten Gemüter. Der größte Teil der Einwohner fuhr schon ab. Wir zauderten noch immer. Da sprengte um 10 Uhr eine russische Patrouille ins Dorf und wechselte mit unseren auf dem Kirchhofe versteckten Vorposten Schüsse. Nun gab`s kein Halten, der Wagenverkehr stockte, wir kamen nur langsam vorwärts. Als wir am Porsch`schen Hause waren, ging hinter uns der Hof des im Abbau liegenden Bauern Engelhardt in Flammen auf. Wir fuhren durch den Tschulkinner Forst bis Rohrfeld. Dort trafen wir die Familien Ball. Korreik und Dombrowski und wollten dort, im Walde versteckt, abwarten, was sich ereignen würde. Am 19.08, als vom Feinde nichts mehr zu sehen war, versuchten wir nach Mallwischken zurückzukehren, kamen aber nur bis Sassupönen, dort schwärmten auf dem Schneppat`schen Gut überall die Russen umher. Wir fuhren schnell nach Rohrleld zurück. Nachmittags war in der Gegend von Kraupischken ein fürchterliches Feuer zu sehen und bald tauchten im Walde überall die Russen auf. Wir suchten die Rettung in eiliger Flucht. Auf grundlosen Wegen fuhren wir tiefer in den Wald hinein und übernachteten auf einer Wiese. Trotz großer Müdigkeit war an Schlaf nicht zu denken. In unserer Nähe stiegen Leuchtkugeln auf und stundenlang fuhr Artillerie an uns vorbei nach Mallwischken zu.

Am 20.08., um 4 Uhr morgens, erzitterte der Wald von den Kanonenschüssen. Es dauerte bis zum Mittag. Da machten wir - Johanne Korreik und ich - uns auf den Weg nach dem Heimatdörfchen. Unterwegs trafen wir einen Ulanen, der uns sagte, kehrt nur ruhig nach Mallwischken zurück, dahin kommt kein Russe mehr. Schon von Weitem sahen wir unser Gotteshaus unversehrt, und auf der westlichen Seite war von einem Kampf nichts mehr zu sehen. Als wir aber auf den Kirchplatz kamen, sahen wir die ersten Zeichen einer Schlacht. Unsere braven Feldgrauen lagen röchelnd und stöhnend in Reihen hingelegt: ein Bild des Jammers. Im Schulhaus war der Verbandplatz. Die vier Schulklassen, Kirche, Pfarrerstall, Pfarrhaus, der Becker'sche Saal, Restauration und Einfahrt waren mit verwundeten Deutschen belegt. Vorne auf dem Kirchplatz lagen verwundete Russen. Autos, Kranken- und Leiterwagen rasten beladen nach Gumbinnen. Bei dem Hause Ball traf ich meinen Bruder, der aktiv beim Infanterie-Reg. 45 diente. Er hatte den Sturm auf Mallwischken mitgemacht und war an der Schulter schwer verwundet. Er wurde auch gleich mit nach Gumbinnen geschickt. Auf der östlichen Seite des Dorfes sah es entsetzlich aus. Viele Feldgraue lagen in allen Stellungen tot. Im Dorfe sah es furchtbar aus. Die Türen waren aufgebrochen, die Fenster zerschossen. Zäune abgerissen. Schweine, Vieh und Schafe liefen herrenlos umher, im oberen Teil des Dorfes brannten der Stall und das Insthaus von Herrn Otto, unten die Wirtschaftsgebäude vom Gut des Herrn Dyk, überall lagen Tote. Die Dörfer Ederkehmen und Uszballen standen in Flammen. Die Geschäfte waren ausgeplündert, die Ware lag auf der Straße, die Möbel zerschlagen, alles Essbare war fort oder vernichtet. Wir gingen, mit eingemachten Früchten beladen, nach dem Pfarrhause. Die Sanitäter hatten mit Verbinden zu tun und baten uns, die Sachen selbst zu verteilen. Auch 2 schwer verwundete Damen, Frau Noreikat und Fräulein Friedrich aus Eggleninken. waren ins Pfarrhaus gebracht worden. Fräulein Friedrich war am Kopf verwundet und ohnmächtig, Frau Noreikat am Fuß schwer verwundet. Die Sanitäter gaben uns Wein. Einem Verwundeten wollte ich etwas zu trinken geben. Er sagte aber: „Geben Sie mir nichts, sagen Sie mir, sind die Russen geschlagen?" Als ich ihm erzählte, dass der Feind bis Pillkallen zurückgetrieben wäre, sank er auf sein Lager und starb. Ein braver 45er sagte zu seinem Nebenmann: “Kamerad, wenn auch der Kopf kaputtging, gesiegt haben wir doch." Trotzdem die Menschen große Schmerzen hatten, leuchtete ihnen die Begeisterung aus den Augen. Die ganze Nacht wurde in der Pfarrerküche gekocht und Brote bestrichen für die Verwundeten und Sanitäter. Um 3 Uhr kam der Oberstabsarzt, fragte nach den örtlichen Verhältnissen und ließ sich ein Zimmer anweisen zum Ausruhen, sagte jedoch, falls Meldung komme, ihn sofort zu benachrichtigen. Um 5 Uhr kam ein Meldereiter mit der Nachricht, dass die Russen mit großer Macht im Anzuge wären. Der Oberstabsarzt rief den Sanitätern zu „Rettet, was zu retten ist und los nach Gcrwischkehmen." Um 6 Uhr schon kamen unsere Truppen fluchtartig zurück und sprengten durch den Wald. Etwa 200 Deutsche und alle russischen Verwundeten blieben noch zurück. Johanne Korreik und ich gingen nach Rohrfeld zurück. Doch die schrecklichen Eindrücke des vorigen Tages ließen uns keine Ruhe. Frühmorgens am 22. waren wir wieder in Mallwischken. Frau Bielefeld und Frl. Salomon sorgten schon für das leibliche Wohl unserer Kranken. Aber die Hitze war groß und die Notverbände fingen an zu stinken. Frau Bielefeld holte ein Stück Hemdentuch von Herrn Lehmann zu Binden, Auguste Kaukereit und ich Verbandwatte, Jodoformgase und Mullbinden von Herrn Apotheker Heling. Wir wuschen die Wunden aus und verbanden sie, so gut es ging. Inzwischen kam russische Kavallerie. Ich war in der Kirche mit Verbinden beschäftigt. Da kam ein höherer russischer Offizier, die Brust mit Orden geschmückt, herein. Ich erschrak beim Aussehen des grimmig aussehenden Feindes, ging ihm aber entgegen. Er fragte nach einem Arzt. Ich erzählte ihm, dass wir allein hier seien. Bei den russischen Verwundeten erkundigte er sich, wie wir sie behandelt hätten. Ein Deutschsprechender erzählte nur, dass uns, so lange sie hier seien, nichts passieren würde. Er hätte den Befehl gegeben. Der Offizier gab den Befehl, die Verwundeten fortzuschaffen und die Leichen zu begraben. Wer nicht Folge leistet, solle gehängt werden. Zurückkehrende Flüchtlinge mussten abladen und die Verwundeten transportieren. Als die Truppen abgezogen waren, fragte ich die Übriggebliebenen, ob sie nach Rußland fahren oder hier bleiben wollten. Einstimmig erklärten sie, lieber hier sterben zu wollen als in russischer Gefangenschaft zu leben, also blieben 46 hier, wovon noch 4 starben. Die Lebensmittel waren anfangs knapp. Frau Bielefeld wusste nicht, womit sie die Menschen satt machen sollte, dann kamen Besitzer aus der Umgebung und brachten alles, was nötig war.

Am 24 endlich waren die Männer zusammen und fingen an, die Toten zu begraben. Es war eine nicht mehr erträgliche Pestluft entstanden. Am 26. kam eine barmherzige Schwester aus Lesgewangminnen zu unseren Kranken. Verbunden hatten wir und weitet konnte diese auch nichts machen. Herr Schneller fuhr nach Kraupischken zum Sanitätsrat. Er war am Lazarett beschäftigt und konnte auch nicht herkommen. Die Schwester fuhr zurück und bat den Herrn Sanitätsrat, die Kranken ins Lazarett zu nehmen. Abends hatten wir noch große Einquartierung von russischer Infanterie. Am 27. früh rückten sie weiter, waren sehr nett zu unseren. Kranken, verteilten noch Zigarren und fühlten sich ganz als Herren des Landes. Am 28. mittags hatten wir endlich genug Fuhrwerke, um die Kranken nach Kraupischken zu schaffen. Nur 2 blieben zurück, welche Herr Hegemeister Wolf, Karlswalde, zu sich nahm. Herr Riegel fuhr mit der Schwester voraus. Herr Milkereit, Herr Großmann und Herr Strupat aus Stimbern hatten Wagen gestellt. Marta Riegel, Frau Heike und ich begleiteten den Transport. Um 1 Uhr fuhren wir ab. Als wir jedoch nach Kraupischken kamen, war kein Platz für die Kranken und wir mussten mit den Schwerkranken nach Ragnit fahren. Bei Herrn Gottschalck, Sauerwalde, wurden wir mit Kaffee und Butterbrot bewirtet. Endlich, nach 10-stündiger Fahrt, kamen wir um 11 Uhr nachts nach Ragnit. Unsere Pfleglinge wurden im Kreiskrankenhaus untergebracht, woselbst ihnen endlich ärztliche Behandlung zuteilwurde. Bei Frau Meiser blieben wir über Nacht und um 10 Uhr fuhren wir wieder der Heimat zu. Russische Kavallerie sprengte überall herum. Aber das Rote Kreuz schützte uns. und hungrig und übermüdet kamen wir um 6 Uhr nach Hause.

Da war schon wieder alles gepackt und zum Ausrücken fertig. Gr. Szameitkehmen und das Steinwender`sche Gehöft in Kögsten waren von russischen Bauern angesteckt. Aber wohin? Überall waren Feinde. Die ganze Nacht wanderten wir umher. Am Sonntag, den 30 08. hielt Herr Präzentor Ostrinski Gottesdienst ab. Wir sangen „Bis hierher hat uns Gott gebracht …“ Aber nie wird es in Mallwischken eine andächtigere Gemeinde gegeben haben wie in dieser Stunde der Angst und Not.

Am Nachmittag war das Dorf voll von Russen. Von jetzt an hatten wir fast täglich Einquartierung von nachziehenden Russen. Das Haus des Herrn Lehmann, mitten im Dorf gelegen, bestimmte Herr Becker immer für Offiziere. Am 1 September kam ein Kommandeur mit seinem Burschen ins Quartier. Der Bursche musste im großen Zimmer ein elegantes Feldbett aufstellen. Als er den mitgebrachten Teekessel aufstellte und Feuer machte, krachte ein Schuss. Er war so aufgeregt, dass ihm alles aus den Händen fiel. Dann machte er sein Gewehr schussbereit und befahl uns, die Sachen einzupacken und auf den Wagen zu laden. Zwischen aufgepflanzten Gewehren trugen wir alles hinaus und harrten der Dinge, die kommen sollten. Es dauerte auch nicht lange, da kam aus dem östlichen Feldlager, wo etwa 8.000 Russen lagerten, ein deutschsprechender Russe herauf und erzählte, dass ein Hase durchs Lager lief und ein mutwilliger Kamerad danach schoss, die anderen schrien „Hurra. Hurra!" und die im Dorf" Einquartierten wurden in Angst versetzt. Mit den Worten: „Anstatt Zeppelin schieße, ein Hase schieße ging er lachend davon. Die aufgeregten Gemüter beruhigten sich. Nur als ich den. Blaugaskasten öffnete und Gas abließ, wurden die Offiziere in Angst versetzt durch das sausende Geräusch. Am 2. hatten wir Ruhe und atmeten befreit auf. Jedoch am 3. quartierte sich der Regimentsstab bei Herrn L. ein, gaben mir Geld und verlangten zu essen. Ich kochte Kaffee und holte Semmeln und Käse und sie ließen es sich gut schmecken. So anständig die Offiziere waren, aber die Mannschaften raubten und plünderten, machten auf den Höfen ganz dicht am Strohdach Feuer an und kochten. Wir waren in beständiger Angst, dass Feuer entsteht, selbst auf die Verbote der Offiziere hörten sie nicht.

Am 4. fuhren polnische Bauern nach Gumbinnen mit Lebensmitteln für die Truppe, kamen am nächsten Tag unter militärischer Bewachung zurück und raubten in den Geschäften, was sie sahen, nahmen den Wagen vom Herrn Pfarrer, das Pferd von Frau Schulz und zogen hochbeladen ab. Sobald man etwas sagte, wollten sie gleich schießen. Am 10. kamen schon Hunderte von bepackten Russenwagen von Kraupischken zurück und fahren über Brakupönen. Wir ahnten zwar, was es zu bedeuten hatte, konnten aber noch nicht an das Glück glauben. Am 11 09. vormittags sprengten 10 Kosaken ins Dorf. Der eine kam herein und verlangte Tabak, schnell sprangen die anderen von den Pferden und fingen an zu plündern. Ich lief schnell zur Hintertür hinaus und versteckte mich.

Nachmittags begann der endgültige Rückzug. Wagen fuhren ununterbrochen der Grenze zu. Autos mit höheren Offizieren rasten durch das Dorf, quartierten sich auf dem Dyk`schen Gut ein, ließen Telegraphendrähte ziehen, sausten aber nach einer Stunde schon der Grenze zu. Die ganze Nacht fuhren Geschütze. Munitionswagen und Bagagewagen. Inzwischen trieben Infanteristen große Vieh- und Schafherden vor sich her. Oft hielten die Wagen, selbst nachts stürzten sie wie Raubtiere in die Geschäfte und Häuser, und jeden Augenblick dachten wir, unser letztes Stündlein ist gekommen. Morgens, am 12.09. um 8 Uhr, kamen in endlosen Scharen die Infanteristen angelaufen und etwas später sausten die ersten Granaten übers Dorf. Die Verwirrung war so groß, dass die Russen alles fortwarfen und wie Hasen querfeldein liefen. Wir krochen in den Keller des Herrn Nabel. Die Granaten sausten ununterbrochen übers Dorf. Hinter Ederkehmen sammelten sich die Russen und erwiderten das Infanteriefeuer, mussten sich aber weiter zurückziehen. Nachmittags sprengten die pommerschen Husaren ins Dorf. Unser Glück und Jubel über die Befreiung von russischer Herrschaft waren groß. Wir waren wie von den Toten Auferstandene. Dann kam unsere Infanterie müde und abgehetzt und verfolgte den Feind weiter, der ganz weichen musste. Wir bekamen Einquartierung. Die ganze Nacht wurde ge¬kocht und gebacken. Am nächsten Tage, den 13 09., meldete sich ein Gendarmeriewachtmeister zum Kaffee an. Er bekam aber den Befehl, nach Stimbern zu reiten und einige zurückgebliebene Russen gefangen zu nehmen. Er traf noch 6 Mann. Als sie hinkamen, wimmelte das ganze Dorf von Russen. Er behielt die Geistesgegenwart, ritt hin und forderte sie auf, die Waffen niederzulegen und sich gefangen zu geben, andernfalls müsste die nachkommende Infanterie alle erschießen. Die Russen hielten ihn für einen höheren Offizier, und 1.026 Mann gaben sich gefangen. Da kamen noch 12 Mann von einem Gehöft. Dem Braven wurde es ordentlich heiß. Jedoch ein deutschsprechender Russe musste hingehen und sie zur Übergabe der Gewehre auffordern. Als die feindlichen Offiziere sahen, dass sie getäuscht waren, knirschten sie vor Wut mit den Zähnen. 2 Maschinengewehre und vollgepfropfte Munitionswagen wurden mit erbeutet. Glückstrahlend lieferte der Wachtmeister seine Gefangenen ab und erzählte beim Kaffeetrinken sein Erlebnis, wie sein Leben nur am seidenen Faden gehangen hätte."

Am 14. rückten unsere letzten Truppen ab und wir hatten Ruhe.

Der Bericht stammt von Frau Lina Milkereit, geb. Teubler. Er wurde vermutlich von Herrn Lehrer Arno Burghardt mit Maschine niedergeschrieben.



  1. Auszug aus: „Mallwen, Kreis Schloßberg, eine Bilderdokumentation von Siegfried Hecht, 2004.“ Genehmigung für die Veröffentlichung in GenWiki im „Portal Pillkallen“ unter der Auflage der ausschließlich nicht-kommerziellen Nutzung liegt vom Autor und Rechtsinhaber schriftlich vom 2.11.2011 vor.