Evangelische Kirche Martinshaus Groß Rosen (Kreis Schweidnitz)

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Festschrift 1932

Festschrift "Kirchenkreis Striegau in Geschichte und Gegenwart - Festschrift zur General-Kirchenvisitation 1932", Herausgegeben von Pastor P. Hechler, Saarau i. Schl.


Martinshaus Groß Rosen (Kreis Schweidnitz)


Das Martinshaus und seine Entwicklung. Das Martinshaus, bestehend aus jetzt sechs Familienhäusern, kann in diesem Jahre auf sein 80jähriges Bestehen zurückblicken. Begründet wurde das Martinshaus im Jahre 1852 von dem damaligen Besitzer der Güter Groß- und Kleinrosen, Bolko Freiherr von Richthofen. Aus dem am 11. November 1852 geweihten einen Familiengehöft hat sich im Laufe der Jahre das Erziehungsheim mit seinen nunmehr sechs Gehöften, Werkstätten, Wohn- und Verwaltungsgebäuden entwickelt. Das Martinshaus ist unter den Heimen der Inneren Mission Schlesiens, die sich ausschließlich mit der Erziehung verwahrloster Kinder befassen, jetzt das größte.

Schon mancher Besucher, der sich von dem Erziehungsheim alle möglichen schlimmen Vorstellungen machte, ist angenehm enttäuscht worden. Das Martinshaus macht den Eindruck, Bestandteil des Dorfes Großrosen zu sein, das seinen Ausläufer zu dem benachbarten Kleinrosen streckt. Die ganze Anlage ist frei, und nicht, wie man sich oft vorstellt, mit Mauern eingeschlossen und vergittert. Frei sollen sich die Pfleglinge fühlen und bewegen können; denn nicht verschlossene Türen, sondern Liebe und Vertrauen zu dem Heim und seinen Erziehern sollen sie festhalten, wie auch ihnen immer wieder Liebe und Vertrauen entgegengebracht wird, obwohl sie oft zu Enttäuschungen Anlaß geben. Diese Grundsätze hat nicht erst die moderne Erziehung gelehrt, sondern schon das Fundament dieses Heimes ruht auf den Gedanken der Liebe zu den Menschen, die der Hilfe bedürfen. Rechte Kinderfreunde im Sinne Luthers und Pestalozzis waren es, die im Aufblick zu Gott den Grundstein zu dieser Arbeit legten, und in deren Geist die Weiterentwicklung des Heims erfolgte.

Der Blick schweift auf bewaldete Berge, die im Sommer zu Spaziergängen und im Winter zum Rodeln gern benützt werden. Während anfangs hier nur schulpflichtige Kinder untergebracht waren, änderte dies sich im Jahre 1901 mit dem Inkrafttreten des Fürsorgeerziehungsgesetzes. Nunmehr wurden auch schulentlassene Jugendliche beiderlei Geschlechts aufgenommen. Schon das Zwangserziehungsgesetz vom Jahre 1878 versetzte die Provinz in die Notwendigkeit, mit solchen Erziehungsheimen in ein Vertragsverhältnis zu treten. Das Martinshaus wurde damals auf die Grundlage eines Vereins der Inneren Mission (des „Erziehungsvereins“) gestellt, in dessen Eigentum das Anstaltsvermögen überging, und dem die Rechte einer juristischen Person verliehen wurden.

Indem man das Familien- und Freiheitsprinzip möglichst festzuhalten suchte, wurde nach Bedarf ein Gehöft und ein Haus nach dem anderen erbaut. Während das Martinshaus sich in seinen Anfängen überkonfessionell eingestellt hatte, infolgedessen neben evangelischen auch katholische Pfleglinge aufnahm, mußte das später geändert werden. Nachdem das Fürsorgeerziehungsgesetz den Grundsatz aufgestellt hatte, daß mindestens die schulpflichtigen Kinder konfessionell zu erziehen seien, wurde hier der konfessionelle Grundsatz durchgeführt.

Dem Martinshaus stand zur Beschäftigung seiner Pfleglinge besonders eine Landwirtschaft zur Verfügung, die 314 Morgen eigenes und gepachtetes Ackerland hatte. Späterhin ergab sich die Notwendigkeit, neben der Landwirtschaft eine handwerksmäßige Ausbildung der Pfleglinge einzuführen. So wurden Schmiede, Schuhmacherei, Herrenschneiderei, Stellmacherei und Damenschneiderei eingerichtet und mit geprüften Meistern besetzt. Der Vorstand des Erziehungsvereins ließ sich von der Provinzialverwaltung zur Einrichtung von zwei Beobachtungsstationen bewegen, was zur Folge hatte, daß zwei Familienhäuser umgebaut werden mußten. Insbesondere in den letzten Jahren machte das Martinshaus wesentliche Entwicklungsfortschritte und hat Neueinrichtungen und Verbesserungen herbeigeführt, deren Auswirkung für die Erziehung der Jugendlichen von größtem Nutzen sind. Die Erbauung eines Wohnhauses für Angestellte, in dem auch einige Geschäftsräume untergebracht sind, war die bis jetzt letzte größere bauliche Veränderung des Martinshauses. Zu den bisherigen Wertstätten wurde noch eine Tischlerei, die mit den neuzeitlichsten elektrisch angetriebenen Maschinen ausgestattet ist, und ebenfalls unter der Leitung eines Innungsmeisters steht, eingerichtet. In der Damenschneiderei sind außer sechs Nähmaschinen zwei Strickmaschinen aufgestellt und in Betrieb. Der Plan, für alle Häuser eine Zentralwaschküche mit maschinellen Einrichtungen anzulegen, ist ebenfalls verwirklicht worden. Eine Wäscherolle, ein Trockenapparat und neuzeitliche, elektrisch angetriebene Maschinen wurden zu diesem Zweck aufgestellt. Um weitere Berufsausbildungs- bzw. Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, wurde eine große Gärtnerei eingerichtet und zu diesem Zweck ein großes Heizhaus errichtet, und es wurden viele Frühbeetkästen angelegt, die zum großen Teil heizbar sind. Die Leitung der Gärtnerei hat ein geprüfter Obergärtner.

Der Gedanke, die in Haus 5 — dem größten Gebäude des Martinshauses — untergebrachten vielen Zöglinge auf vier Familien zu verteilen, wurde durchgeführt. Durch Korridorabschlüsse wurde das Haus in vier Teile geteilt und in der neu geschaffenen vierten Familie die neu hinzukommenden Zöglinge untergebracht. Jede Familie hat ihren Schlaf-, Tages- und Waschraum. Die Arbeitsmöglichkeit für die Jugendlichen war trotz der vorhandenen Werkstätten und der Landwirtschaft noch sehr gering, und infolgedessen entschloß sich der Erziehungsverein, das Martinshaus zu erweitern und das Rittergut Oberstreit hinzuzukaufen. Auf dem Gute, das zirka 700 Morgen Land (einschließlich Wald und Wiesen) besitzt und zirka 100 Morgen Pachtland hat, ist eine neue — die sechste — Familie untergebracht. Durch diesen Gutsankauf sind auch neue Arbeits- und Berufsmöglichkeiten geschaffen. Männliche Jugendliche können unter der Leitung eines Obermelkers im Melkerberuf ausgebildet werden. Auch dem Schäfer — es ist eine große Schafherde vorhanden — werden Pfleglinge zum Anlernen überlassen.

Auch die neueste Errungenschaft der Technik hat sich das Martinshaus für die Erziehung und Unterhaltung der ihm anvertrauten Pfleglinge zu eigen gemacht, indem es für alle Familienhäuser Rundfunkanlagen geschaffen hat.

Gut bewährt hat es sich, daß den Pfleglingen, die dies Vertrauen verdienen, größere Freiheit gewährt wird, indem ihnen an Sonntagsnachmittagen Urlaub erteilt wird und sie — mit etwas Taschengeld Versehen — ausgehen dürfen. So werden die jungen Menschenkinder, die später außerhalb des Heimes untergebracht werden sollen, allmählich daran gewöhnt, eine ähnliche Freiheit zu haben wie sie bei den in Stellung draußen untergebrachten Pfleglingen in Frage kommt. Die mürrischen, unzufriedenen Gesichter sind schon längst verschwunden. Im Martinshause herrscht tagaus, tagein ein fröhliches Leben, in rechter Mischung von Arbeit und Jugendlust. Leicht ist die Arbeit der Erzieher nicht. Es ist ein ständiges Ringen um das Verständnis der jungen verworrenen Seelen, ein Ringen auch um ihr Vertrauen, ein immer wieder neues Hoffen und Glauben.

Wenn auch viele Hoffnungen nicht in Erfüllung gehen, der weitaus größte Teil der Zöglinge wird doch soweit gefördert, daß sie in irgendwelche Arbeitsstellungen gegeben werden können und sich dort bewähren.

Wie alle Fürsorgeheime, hat auch das Martinshaus in den letzten Jahren mit ganz besonderen Nöten ringen müssen, seelisch wie wirtschaftlich, aber es hat auch immer wieder neue Gotteshilfe erfahren dürfen in der Gewißheit „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus!“