Erziehung im XX. Jahrhundert/012

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Erziehung im XX. Jahrhundert
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Oft sind es die nächsten Angehörigen des Kindes, ehrwürdige Grosseltern und liebe Tanten, die es herzlich gut mit dem Kinde meinen. Alles an demselben finden sie des Lobes würdig, und dadurch legen sie den Grund zu Eitelkeit und Gefallsucht. Sie mischen sich aber auch, und das ist noch viel bedenklicher, zuweilen direkt in die Erziehung der Eltern ein. Da, wo ein tadelndes Wort oder eine Strafe am Platze wäre, haben sie stets eine Entschuldigung und suchen die Fehler und Vergehen des Kindes zu vertuschen.

Die unberufenen Erzieher wirken aber nicht nur in der Familie und inner- halb der Wände der Kinderstube, sondern auch auf der Strasse und vor allem in der Schule. Jeder hässliche Anblick, den ein Kind auf der Strasse in einem unbewachten Augenblicke hat, jedes unbedachte oder boshafte Wort, das ihm ein Vorübergehender zuruft, kann die sorgfältigste Erziehung schwer schädigen. Wir alle erinnern uns solcher Beispiele aus unserer eigenen Kinderzeit, gleichviel, ob wir diese in der Stille eines friedlichen Dörfchens oder im Getriebe der Grossstadt verlebt haben. Das Kapitel »Grossstadtkindex« und »Erziehung in der Grossstadt« verdiente eine Behandlung für sich, denn nirgends wird die Erziehung durch unkontrollierbare Einflüsse mehr gefährdet wie in der Grossstadt. Zunächst soll indes nur auf einen Gedanken hingewiesen werden, der sich bei derartigen Ueberlegungen wohl manchem besorgten Vater und mancher liebevollen Mutter aufdrängt. Wenn so viele Einflüsse an der Erziehung mitarbeiten, wie können wir da überhaupt hoffen, sie in unserm Sinne vollenden zu können? Müssen wir nicht vielmehr befürchten, dass die andern Erzieher mächtiger sind als wir selbst, und dass durch ihren Einfluss unsere Arbeit zunichte gemacht wird?

Glücklicherweise ist die Gefahr doch nicht so gross. Wie ein junger Baum zwischen Unkraut und Gestrüpp mächtig zum Lichte emporwächst, wenn nur seine Wurzeln aus gutem Erdreiche ihre Nahrung empfangen, so wächst auch das Menschenkind trotz aller Gefahren und schädlichen Einflüsse in körperlicher und geistiger Gesundheit heran, wenn man nur dafür gesorgt hat, dass sein Charakter in gesundem Boden wurzelt und dass die schädlichen Einflüsse nicht übermächtig werden. Das Dichterwort, dass ein Charakter sich erst im Strome der Welt bilde, ist nur in beschränktem Sinne richtig; der Charakter bewährt und festigt sich im Strome der Welt, aber gebildet wurde er schon vorher, nämlich in der Kinderstube, in der Familie und im Kindesalter. Schon in den ersten Lebensjahren wird die Erziehung im gewissen Sinne vollendet, in dieser Zeit muss also auch der Grund zu allem Guten gelegt werden, was der Mensch später im Leben betätigen soll.